Du 888 | Dezember 2018 | Ich, Beltracchi – Jahrhundertfälscher
Ich, Beltracchi
Jahrhundertfälscher
Jahrhundertfälscher, Jahrhundertkünstler
Von Oliver Prange.
Die vorliegende Du-Ausgabe ist in enger Zusammenarbeit mit Wolfgang Beltracchi und seiner Frau Helene entstanden. Die Auseinandersetzung war intensiv. Viele Versionen wurden ausprobiert, verworfen, anders gedacht, neu umgesetzt. Man bekam zu spüren, dieser Künstler geht bis zum Letzten. Bis alles stimmt. Wir bekamen einen Eindruck davon, wie es möglich war, dass er Bilder in der künstlerischen Handschrift bekannter Maler schuf und keiner merkte, dass sie nicht aus der Hand der Originalmaler stammten. Beltracchi kopierte die Künstler nicht, sondern erfand neue Titel und Motive, füllte Lücken auf in deren Werk, wie er sagt. Er ersann Geschichten rund um ihre Entstehung und ihren Verbleib, um sie glaubwürdig zu machen. Er ist ein Meister seines Fachs. Er beeinflusste die Kunstgeschichte, verdiente Millionen – genoss es –, verlor sie wieder; er bleibt eine Frohnatur. Für ihr Wirken wurden er und Helene, seine Ehefrau und Komplizin, verurteilt und verbüssten eine Haftstrafe. Es war der grösste Kunstfälscherskandal aller Zeiten. Im Gefängnis dann malte Beltracchi Porträts von Mitgefangenen und erhielt dadurch deren Protektion, er spielte in Fernsehdokumentationen mit und schrieb Liebesbriefe an seine Frau. Beltracchi ist in der Lage, das Wesen eines Kunstwerks zu erfassen. Er nimmt es in sich auf, ohne darüber nachzudenken, kann sich in ein Bild hineinfühlen, ins Unterbewusstsein des Künstlers auch, ganz intuitiv, kann seine Handschrift erkennen und sie sich zu eigen machen. Seine Begabung wurde ihm schon als Kind bewusst. Er bezeichnet sie als genetischen Defekt. Doch nebst dem perfekten Handwerk braucht es auch sehr viel kunstgeschichtlichen und naturwissenschaftlichen Sachverstand. Schriftsteller Daniel Kehlmann sagt: «Beltracchi ist ein faszinierender Mann: hochintelligent und extrem sensitiv. Er durchschaut Menschen sofort, und er ruht in sich, wie ich das noch bei wenigen Leuten erlebt habe.» Und: «Wenn dieser Mann kein echter Künstler ist, wer bitte soll dann ein echter Künstler sein ?» Ausser Kehlmann äussern sich in dieser Du-Ausgabe bekannte Geister wie Horst Bredekamp, Christian von Faber-Castell, Hans Ulrich Gumbrecht, Michael Erlhoff, René Scheu und Peter Sloterdijk zu dem Phänomen. Und wir publizieren bislang unveröffentlichte Briefe der Beltracchis, die sie sich während der Haft und danach schrieben. Die Reportage-Bilder stammen von Alberto Venzago, der gleich alt ist wie Beltracchi und ebenso als Hippie-Kind aufwuchs. Die zwei freundeten sich an, sie haben beide eine Vorliebe für die Apokalypse, jeder auf seine Art. Gegenwärtig werden nach Venedig in Hamburg zweitausend Jahre europäischer Kunst in Beltracchis Interpretation gezeigt – in der Ausstellung Kairos. Der richtige Moment. Im September 2019 ist sie in Wien zu sehen. Wolfgang Beltracchi ist es mit seinem aussergewöhnlichen Talent gelungen, nach der Haft wieder Fuss zu fassen und nicht nur Sammler, sondern auch die Fachwelt von seiner Kunst zu überzeugen.