Du 869 | September 2016 | Höhepunkte der Weltgeschichte – Reportagen aus 2000 Jahren
Höhepunkte der Weltgeschichte
Reportagen aus 2000 Jahren
Wir versammeln in dieser Du-Ausgabe Reportagen der Weltliteratur. Bei der Auswahl mitgewirkt hat Georg Brunold, der 1995 bis 2003 stellvertretender Chefredaktor von Du war. Er hat zwei grosse Bände mit Reportagen und Texten aus 2500 Jahren im Verlag Galiani Berlin veröffentlicht (Nichts als die Welt, 2009, Nichts als der Mensch, 2013). «Die Reportage ist eine wahrhaft universelle literarische Gattung. Sie kann und darf fast alles, solange sie vom Tathergang und von der Sachlage, von denen darin die Rede ist, nicht schon lückenlose Kenntnis voraussetzt. Der Erzähler ist ein Augenzeuge», sagt Brunold.
Wir haben Augenzeugenberichte von Marco Polo, Christoph Kolumbus, Stendhal, Heinrich Heine, Mark Twain, Jack London und vielen anderen zusammengestellt.
Brunold: «Nie ist Literatur die wirkliche Welt noch einmal, die als niedergeschriebene vollends ungeniessbar wäre. Im guten Fall, ob im Roman oder in der grossen Reportage, führt sie uns in eine gestaltete, hervorgebrachte, sichtbar gemachte Welt, die uns zuvor nicht vertraut war. Endlich öffnete sie sich unserem Blick – dank der schöpferischen Kraft von Autoren und Künstlern, die in den Zeiten unterwegs sind und diese mit ihnen.»
Die Bilder in dieser Du-Ausgabe stammen von dem renommierten Reportage-Fotografen Alberto Venzago. Im Jahr 1988 will er mit einer Freundin auf einer Vespa den afrikanischen Kontinent durchqueren. Der Roller geht ständig kaputt, und so verbringen sie mehr Zeit mit Warten bei Mechanikern als auf der Strasse. Im Städtchen Ouidah in Benin gibt er endgültig seinen Geist auf. Venzago weiss noch nicht, dass er vor einem berühmten Voodoo-Kloster steht und der freundliche dicke Mann im wallenden Gewand vor ihm Mahounon ist, einer der einflussreichsten Voodoo-Priester Westafrikas. Mahounon bietet ihnen an, das Orakel zu lesen. Als er die Karten legt, sagt er: «Seltsam, ich sehe deine Freundin doppelt, dann aber doch wieder nur einzeln.» Uschi kriegt einen Weinkrampf. Sie hatte eine Zwillingsschwester, die mit vier Jahren starb. So beginnt Venzagos Faszination für Voodoo.
Über zwölf Jahre kehrt Venzago immer wieder nach Benin zurück, darf Zeremonien und Rituale fotografieren und filmen, die vor ihm noch niemand aufzeichnen konnte. Einmal bringt er als Geschenk ein Foto mit, das er ein Jahr zuvor aufgenommen hat und das Mahounon vor einem Baum zeigt. Dann passiert etwas Seltsames. Der Mann rastet völlig aus. Es gibt ein Gekreische und Gezeter in dem Kloster. Alles rennt durcheinander, die Kinder, die Ziegen. Venzago weiss nicht, wie ihm geschieht. Mahounon kommt auf ihn zu, wutentbrannt, hält ihm das Foto unter die Nase, meint, Venzago hätte nicht um Erlaubnis gefragt. Dieser versteht nicht, er hätte ja speziell für ihn posiert. Da erwidert Mahounon, es gehe nicht um ihn, er hätte den Baum um Erlaubnis fragen müssen. Es ist ein heiliger Iroko-Baum. Venzago kauft drei Ziegen und sieben Hühner, um mit diesen Opfergaben den beleidigten Baum zu besänftigen. «Voodoo heisst Gott. Und es gibt Gesetze und Vorschriften. Man kann die Götter freundlicher stimmen, indem man sie schmiert – fast wie bei uns», sagt Venzago. Mahounon erklärt Venzago, dass nicht er nach Afrika gekommen sei, um ein Abenteuer zu erleben. In Wirklichkeit habe er, Mahounon, ihn geholt, um seine Geschichte zu dokumentieren.