Du 852 | Dezember 2014 | Hans Ulrich Obrist – Interview Project
Hans Ulrich Obrist
Interview Project
Interview Project
Vor über zwei Jahrzehnten begann Kurator Hans Ulrich Obrist sein Interview Project. Hunderte kreative Menschen aus Kunst und Wissenschaft hat er seither interviewt. Oft ergaben sich die Gespräche am Rande von Ausstellungen oder anderen gemeinsamen Arbeiten. Mit vielen Künstlern sprach er mehrmals, es gibt Interviews, die bis zu fünfzig Stunden lang sind. Sie wurden geführt im Zug, Taxi, Flugzeug, Hotelzimmer oder auf einer Wanderung. Was war der Auslöser für dieses Werk?
Seit jeher war Obrist, Kodirektor der Londoner Serpentine Gallery, fasziniert von den über Jahre geführten Interviews von David Sylvester mit Francis Bacon, die zeigten, dass Bacon unmöglich über seine Arbeit sprechen konnte. Er war begeistert von den kürzeren Gesprächen von Pierre Cabanne mit Marcel Duchamp und jenen von Brassaï mit Picasso. Sie inspirierten ihn zur eigenen Reihe. Rasch begriff Obrist, dass er Gesprächspartner nicht nur in der Kunst suchen durfte – gemäss Kunsthistoriker Alexander Dorner: Wenn man die Kräfte der bildenden Kunst verstehen will, muss man auch die Kräfte anderer Disziplinen kennen. Mit Rem Koolhaas besuchte er Weltstars der Architektur und inszenierte 24-Stunden-Interview-Marathons in London, Dubai, Kassel, Berlin, Kairo, Peking.
Die Form des Künstlergesprächs geht zurück auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der Nachkriegszeit entstand im US-amerikanischen Kunstbetrieb das Bedürfnis, dass Künstler ihre Werke selbst erklären, aus Gründen der Vermittlung und Rezeptionssteuerung. Andy Warhol machte es gar zum Programm, als er 1969 mit seiner Factory die Zeitschrift Interview gründete – aus einem Interesse an Mode- und Gesellschaftsgeschichte sowie an Unterhaltung. Warhol nahm zu jeder Dinnerparty ein Tonband und einen Fotoapparat mit. Er bot Stars eine Plattform, in eigenen Worten, weitgehend unredigiert, von sich zu erzählen. Sie wurden auch von anderen Stars interviewt, aber nicht von Journalisten. Auf diese Weise sollte ein Gespräch auf Augenhöhe in entspannter Atmosphäre stattfinden, so das Konzept. In gleicher Weise führt Obrist seine Interviews. Sein erstes grosses Buch entstand 2003 für die Biennale in Venedig, als Kurator Francesco Bonami die Idee für ein 1000-seitiges Buch hatte mit 80 Interviews. Obrist: «Mir wurde bewusst, wie weit das Projekt bereits gediehen war, denn ich hatte 12 000 Seiten.» Im Folgenden entstand die zweite Buchreihe, The Conversation Series.
Du hat für diese Ausgabe einige wenige Interviews ausgewählt aus Obrists riesigem Archiv der Zeugen des 20. Jahrhunderts. Der Historiker Eric Hobsbawm sagte ihm einmal, es gäbe einen dringenden Protest auf der Welt, den gegen das Vergessen. Paradoxerweise entstehen im digitalen Zeitalter mehr Archive als je zuvor, gleichzeitig gibt es auch mehr Amnesie. Vielleicht ist Obrists Archiv ein kleiner Beitrag zum hobsbawmschen Protest gegen das Vergessen.