Du 848 | Juli 2014 | Die Psyche
Die Psyche
Vladimir Nabokov, der Autor von Lolita, war ein Synästhetiker. Das ist jemand, der mehrere Sinne koppelt: Wahrnehmung, Farbe, Temperatur. Man kann Zahlen riechen, Wochentage sehen, Buchstaben Farben zuordnen. Das ist keine Krankheit, sondern eine Fähigkeit. «Die Farbempfindung scheint dadurch hervorgerufen zu werden, dass ich mit dem Mund einen Buchstaben bilde, während ich mir seinen Umriss vorstelle. Da zwischen Klang und Form eine subtile Wechselwirkung herrscht, sehe ich das q brauner als das k, während s nicht hellblau wie c ist, sondern eine merkwürdige Mischung von Himmelblau und Perlmutt», schrieb Nabokov. Die Synästhesie hat als Ursache eine Mischung aus genetischen Gründen, Zufall und
Erfahrung.
Der Neurobiologe Martin Korte ist davon überzeugt, dass die äussere Welt durch das Hirn gestaltet wird. «Die Welt ist, was das Gehirn aus ihr macht. Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, wir nehmen sie auch nicht wahr, wie sie scheint, wir erleben sie so, wie
Verschaltungen in unserem Gehirn dies vorgeben.» Wolf Singer, ebenfalls ein Hirnforscher, fragt: «Wie wird aus den separaten Sinneseindrücken Fell, bellen und vier Beine im Gehirn ein Hund?»
Wie setzt das Gehirn einzelne Eigenschaften von Objekten zu einem Ganzen zusammen? Untersuchungen des Hirns haben gezeigt, dass es keinen Hauptsitz des Bewusstseins gibt, in dem alle Informationen zusammenfliessen, sondern «nur» hundert Milliarden Zellen, die tausendfach mit anderen vernetzt sind. Und wie setzt sich in dem hochgradig dezentral organisierten System das Gefühl einer Seele, einer Psyche zusammen, sodass wir uns als ein einheitliches Ich wahrnehmen?
«Ist das, was wir empfinden, wenn wir glücklich sind oder verzweifelt, euphorisch, verliebt oder zu Tode betrübt, lediglich ein Theater der vielen Windungen und Furchen in unserem Kopf?», fragt unser Autor Ulrich Woelk. Was ist der Charakter eines Menschen? Was sein Wille? Zu verstehen, wie hundert Milliarden einzelner Hirnzellen das hervorbringen, was wir als Bewusstsein erleben, als Ich, als unsere Psyche, ist noch ein weiter Weg.
Wer ist eigentlich meine Seele? Gehört sie mir, oder ist sie älter, fremder, wissender? Gespeichert mit den Erfahrungen einer jahrmillionenalten Menschheitsgeschichte?
Unser Autor Ludwig Hasler macht sich Gedanken, wie mit der Seele im heutigen Alltag verfahren wird. Sie wird gehätschelt und verwöhnt. Die Ursache der heutigen Stresskranken ist weniger in
der Rücksichtslosigkeit der globalisierten Wirtschaft zu sehen als vielmehr in dem Überdruss, andauernd sich selbst sein zu müssen. Entsteht Widerstand, gibt es Burn-out. «Das Selbst ist erschöpft, das stimmt die Seele melancholisch, und weil die Seele überall hinreicht, beschädigt diese Erschöpfung das Körpergefühl, macht arbeitsunfähig, zerstört Beziehungen, nimmt alle Freude», schreibt Hasler. Dabei wusste schon Immanuel Kant: «Die Taube in ihrem Fluge kommt leicht auf den Gedanken, ohne Luftwiderstand flöge sie noch viel leichter. In Wirklichkeit stürzte sie ab.»
Diese Ausgabe des Du entsteht zum vierten Mal in Zusammenarbeit mit dem Lucerne Festival; wir bespielen dasselbe Thema: die Psyche. Der Dramaturg Mark Sattler schreibt, dass Musik und Psyche eine elementare Gemeinsamkeit haben: eine gleichsam magische Abstraktheit – beide sind ungreifbar, unfassbar, trotz aller Konkretheit der Empfindungen und Wirkungen scheinen beide immateriell. Geschichtliche Wurzeln von Musik und Psyche liegen in den Praktiken und Ritualen des Animismus. Musikalische Rituale waren schon immer Mittel und Zweck, sich mit Göttlichem, Übernatürlichem in Kontakt zu bringen, was sich auch in der engen Verbindung von Musik und Religion zeigt.
Wir bedanken uns bei der Credit Suisse, dem Hauptsponsor des Lucerne Festival, für die Unterstützung dieser Ausgabe.