Du 844 | März 2014 | Monte Verità – Utopien und Dämonen
Monte Verità
Utopien und Dämonen
Vor hundert Jahren war der Monte Verità der verrückteste Ort der Welt. Um 1900 entdeckte eine Gruppe von fünf den Berg, darunter der Naturapostel Gusto Gräser. Er trug einen weissen Kasack, der in der Hüfte durch eine Schnur zusammengebunden war. Sein Gesicht war zerfurcht und sonnengegerbt, doch auf eine gewisse Weise alterslos. Die wallenden Haare reichten ihm bis über die Schultern und wurden von einem ledernen Stirnband zusammengehalten. Der lange krause Bart ging ihm bis zur Brust. Seine Füsse steckten in Bastsandalen. In der Rechten hielt er einen kunstfertig geschnitzten Spazierstock. Er hatte eine nazarenerhafte Ausstrahlung und wirkte wie vom Kreuz geklettert.
Gusto Gräser: «Der Zweck des Daseins kann unmöglich darin bestehen, dass der Mensch Arbeit tut, die ihm abträglich ist. Man muss sich lösen von den Zwängen der Arbeitswelt.»
Sie bauten Licht-Luft-Hütten, ein Sanatorium, legten Gemüsegärten an, lebten vegetarisch.
«Jede Krankheit liegt im widernatürlichen Leben begründet, zumal im Essen. Das Fleischfressen ist eine Entartung, bei der wir Edelmenschen kein würdiges Leben führen können. Wahrscheinlich geht sie zurück auf die Zeit der Sintflut. Damals gab es weder Raubtiere noch Raubmenschen. Aber alle mussten sie flüchten auf den Gipfel der Berge, und dort gab es keine Pflanzennahrung, also frass man sich gegenseitig auf.»
Im Laufe von zwanzig Jahren kamen Sinnsucher aus aller Welt: Anarchisten, Anthroposophen, Astrologen, Buddhisten, Freidenker des Grand Orient, Freimaurer, Geheimschüler von Brahmo Samaj und Arya Samaj, Illuminaten, Indologen, Magier, Mitglieder der Hermetischen Bruderschaft von Luxor, Naturreformer, Orientalische Templer, Parapsychologen, Pendelschwinger, Philosophen, Rosenkreuzer, Satanisten, Sexualbolschewisten, Theosophen, Wahrsager und Wünschelrutengänger.
«Über viele Jahre trage ich meinen Grünspecht im Kopf, aber wo hat je ein Narr gelebt, der sich selbst als Narr erkannte, und wo ein Weiser, der nicht zum Gespött der Närrischen wurde?»
Es wurde wahnsinnig viel geredet auf dem Berg: über die Wichtigkeit freier Entfaltung des Individuums, über die kooperative Gesellschaftsform, über Ritual- und Kulttanz, über Ausdruckskultur, gesunde Ernährungsweise, Naturheilkunde, Wohnreform, Kleiderreform, Schreibreform, Frauenbefreiung, Kulturreform und Siedlungswesen.
«Auch ich bin ein Aussätziger, ein prophetenbärtiger Waldteufel, eine nomadische Verkündergestalt, ein harmloser Bürgerschreck. In Wirklichkeit trotze ich dem Tristentum, den Lahmgezähmten und stelle ihnen mein Herztum entgegen. Das ist leider vielen nicht gut bekömmlich.»
Die Monte Veritani wandelten mit gedankenverhangenen Gesichtern in Tunika auf der Matte und suhlten sich in Moorbädern in der Überzeugung, dies erhöhe Gesundheit und Geist.
«Ich kam, ein Feuer zu zünden
In diesem Erdenland
Was wollt ich mehr
Es stünden die Herzen
Schon in Brand.»
Hier waren Menschen, die wahrhaftig leben wollten, ohne das lügnerische Gebaren der Geschäftswelt, ohne die Vorurteile der Gesellschaft. Zwar verloren sie unter der gleissenden Tessiner Sonne mit der Zeit jegliche Ziele aus den Augen, dafür aber auch ihre Salonblässe.
«Komm,
Sonniger, Landmann voll
Wildlandhauch!
Sei kein Holzstrunk!
Nimm auf das Baum- und Strauchgejauchz!
Geh mit mild wilder Kraft deinem Schicksal entgegen!»
Die erste Phase ging zu Ende mit einem mehrtägigen Sonnenfest im August 1917. Sanatorium-Gründer Henri Oedenkoven war desillusioniert und pleite, als ein seltsamer Mann auftauchte. Theodor Reuss war in London ursprünglich Drogist, dann sang er in Bayreuth in Wagners Oper Parsifal den Gurnemanz und wurde darauf Kriegsberichterstatter für die Times auf dem Balkan. Doch seine wahre Leidenschaft galt dem Orientalischen Templerorden O. T. O., den er ab 1902 wiederbelebte. Er, der Grossmeister, versprach Oedenkoven unbeschränkte Mittel. Was dieser Orden bezweckte, wusste jedoch kein Mensch genau. Aber er führte auf dem Berg dunkle Zeremonien ein und die Aussicht auf erotisch gefärbte Erlebnisse, heilig-wüste Handlungen und religiös-entfesselte Satansdienste. Nach dem Fest griff Ernüchterung um sich, und Oedenkoven warf den Hochstapler mitsamt seiner Gimpelloge vom Berg. Die erste Ära war passé.
Vom 10. bis 13. April 2014 findet auf dem Monte Verità das zweite Literaturfestival statt mit dem Titel Utopien und Dämonen. Unter
der Leitung von Marco Solari und Joachim Sartorius stellen sich Schriftsteller die Frage, ob Verheissungen gelebt werden können. Welche Rolle spielen die Dämonen, wenn diese Veränderungsprozesse so oft ins Böse oder auch nur ins Lächerliche umschlagen? Nobelpreisträgerin Herta Müller, Péter Nádas und Joanna Bator geben auf diese Fragen Auskunft. Mit Monstern und munteren Dämonen der Poesie befassen sich Nora Gomringer, Durs Grünbein, Valerio Magrelli und viele andere. Nähere Informationen finden Sie unter: www.eventiletterari.ch. Wir bedanken uns für die Unterstützung dieser Ausgabe bei Swisslife und Mobiliar.