Du 841 | November 2013 | Paul Auster – Harte Texte, weiche Menschen
Paul Auster
Harte Texte, weiche Menschen
Glück und Katastrophe – wo ist der Widerspruch?
Von Armin Kerber
Am Ende sind es knapp drei Stunden, die wir in Brooklyn mit Paul Auster in seinem Haus verbracht haben. Anderthalb waren verabredet gewesen, ausserdem war da die häufig ausgesprochene Warnung im Raum, dass es ihn, den grossen amerikanischen Autor, nicht interessiere, mit fremden Menschen über sein Werk zu sprechen, also mit Menschen wie uns, die extra von Zürich nach New York gereist waren, um genau dies zu tun. Tatsächlich ist dann Paul Auster, als wir an einem heissen Julitag an seiner Haustür in Park Slope klingeln, von der ersten bis zur letzten Minuten der freundlichste und aufmerksamste Gesprächspartner, den man sich vorstellen kann.
Als die New Yorker Fotografin Nina Berman zu unserem Treffen dazustösst, erwähnt er mit einem steifen Lächeln, wie ungern er sich fotografieren lasse – dies sagt ausgerechnet Paul Auster, dessen Attraktivität und Fotogenität legendär sind und dessen Bilder mit ihrer männlich-melancholischen Ausstrahlung vielleicht ebenso sehr für seine Bekanntheit gesorgt haben wie seine Bücher. Den meisten Direktiven unserer Fotografin folgt er dann übrigens mit höflicher Contenance.
Es gibt nur einen Moment an diesem hoch konzentrierten und zugleich entspannten Gesprächsnachmittag, an dem Paul Auster uns beiden zu spüren gibt, er wäre not amused: Als meine Kollegin Alexandra von Arx ihn, den ausgewiesenen Sportsfreund und Baseballkenner, fragt, ob er in seiner Jugend eigentlich als Streber gegolten habe, da er doch bereits in frühen Jahren wahnsinnig viele Bücher verschlungen und damit den Grundstein für sein riesiges enzyklopädisches Wissen gelegt habe. «Man kann Gedichte lesen und Fussball spielen», war seine unwirsche Antwort, der grosse Samuel Beckett sei ein hervorragender Cricketspieler gewesen: «Körper und Geist, wo ist der Widerspruch?»
Vielleicht liegt genau darin der Schlüssel für das Geheimnis dieses Schriftstellers, dessen Werk so schwer einzuordnen ist. Denn wie einer der besten Kenner der angelsächsischen Gegenwartsliteratur im deutschen Sprachraum, unser Autor Wieland Freund, betont, ist Paul Auster im Kosmos der amerikanischen Literatur auf eine besondere Art heimatlos, «ein Mann dazwischen»: Er gehört nicht mehr zu den Gründervätern der Postmoderne wie William Gaddis, Thomas Pynchon oder Don DeLillo, aber genauso wenig zählt er zu den neuen Realisten wie Jonathan Franzen oder Jeffrey Eugenides. Das, was Auster von anderen unterscheide, schreibt Wieland Freund, ist seine Obsession für die Glückskatastrophe – und da öffnet sich die Tür einen kleinen Spalt zu Austers Geheimnis: Glück und Katastrophe, wo ist der Widerspruch?
Auf den ersten Blick lesen sich seine Bücher als eine Aufeinanderfolge von diversen Katastrophen, die mit gnadenloser Brillanz durchexerziert werden. Doch zugleich halten seine Figuren in den ausweglosesten Momenten, in die sie ihr Autor – mit Dürrenmatt’-scher Radikalität («Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat») – geschickt hat, an ihrem Willen zum Glück fest. Wer die Katastrophe durchgestanden hat, weiss das Glück erst richtig zu schätzen. Dabei hat er keine Ahnung, wann die nächste vor der Tür steht. Als Nathan Glass am Ende der Brooklyn-Revue nach überstandener, beinahe tödlicher Krankheit morgens um acht glücklich aus dem Spital tritt, ist es der 11. September 2001. Wo ist der Widerspruch?
Dass Auster neben seinen explizit autobiografischen Büchern auch in seinen Romanen – ohne dies gross zu kaschieren – eindeutige Anleihen bei der eigenen Biografie, seiner Familie und seinen beiden Ehen macht, irritiert und fasziniert. Sätze und Episoden aus seinem Leben springen immer wieder wie Readymades in sein Werk. Ein Spruch, den Austers Grossmutter seiner Mutter mitgegeben hat, taucht genauso in einem seiner Filme auf wie ein Fragespiel, das er mit seiner Tochter auf dem Rücksitz eines Taxis erfunden hat.
Bernadette Conrad hat sich das Werk von Lydia Davis (Ehefrau 1) und Siri Hustvedt (Ehefrau 2), Simone Meier seine Familiengeschichten genauer angeschaut. Zwischen den Büchern der beiden Ehefrauen gibt es interessante Differenzen und Korrespondenzen; hinter der glamourösen Tochter erscheint der Sohn aus erster Ehe in der Klemme, und weit weg von der mediengestählten Familie verschwindet die Schwester im sozialen Abseits. Der Urknall der Auster’schen Familienkonstellation – die Grossmutter hatte den Grossvater umgebracht – hallt lange nach in diesem familiären Wechselbad aus Abgründen und Rettungsmanövern.
Der Tod des Vaters, der in seinem ersten Buch Die Erfindung der Einsamkeit einen zentralen Platz einnimmt, erscheint als Präzedenzfall für das Auster’sche Katz-und-Maus-Spiel zwischen Glück und Katastrophe. Denn zu seiner grossen Überraschung erfährt der völlig abgebrannte Auster, dass der Tod seines ungeliebten Vaters, der das Schreiben des Sohnes nur aus der Ferne verfolgt hat, ihm eine Summe von Geld beschert, das ihm zum ersten Mal in seinem Leben den freien Atem zum eigenen Schreiben gibt.
Über den Tod der Mutter schreibt er in seinem gerade eben auf Deutsch veröffentlichten Winterjournal. Minutiös protokolliert er den eigenen Zusammenbruch, als er von ihrem Tod erfährt; seine Ehefrau ist abwesend, zwei Tage sitzt er allein in seinem Haus und trinkt sich beinahe ins Koma. Whisky und Zigarillos sind seine Freunde, «ein Barkeeper interessierte ihn ebenso sehr wie ein Schriftsteller», lässt Auster sein Alter Ego Peter Aaron in Leviathan sagen. Man muss nicht erst die zahllosen Anekdoten über Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald, Dorothy Parker und viele andere grossartige Schriftsteller aktivieren, um als Realität anzuerkennen, was gern als Tabu ignoriert oder als Klischee abgetan wird: Wer vom Schreiben spricht, kann über das Trinken nicht schweigen. Unser Autor, der Auster-Kenner Daniel Schreiber, fragt nach, warum Menschen, die ausgezogen sind, um in der Literatur ihr Glück zu finden, so oft mit einem epischen Kater am Schreibtisch landen.
«Das blinde, unsinnige und besessene Glücksverlangen in diesem Menschen» – diese Diagnose von Walter Benjamin über Marcel Proust trifft exakt auf Paul Auster zu. Er selbst macht keinen Hehl daraus, dass dieses Glücksverlangen am Ende immer wieder ins Schreiben mündet, kaum ein anderer Autor lässt so viele schreibende Alter Egos seine Bücher bevölkern, und bei fast jedem Auftritt – auch uns gegenüber – wird er nicht müde, sein in wenige Silben gemeisseltes Lebensglück zu wiederholen: «Writing is like breathing.» Einmal mitten im Gespräch holt er plötzlich ein paar Papierbögen aus dem Schrank und legt sie vor uns auf die grosse rote Glasplatte des Esstisches, an dem wir sitzen. Es ist ein früher Text von ihm, der noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde (siehe Seite 37) und den er uns exklusiv für diese Du-Ausgabe offeriert. Durch den ganzen Körper des Mannes, der die meiste Zeit des Gesprächs, fast ohne zu gestikulieren, die Hände auf der Glasplatte parkiert und zwischendurch immer wieder mit stoischer Ruhe einen Zigarillo raucht, geht ein Ruck. Strahlend, ohne jede Eitelkeit, präsentiert er uns den Fund aus seinem eigenen Werk, und wir glauben ihm auf der Stelle sein Schreibglück. Und reichen es Ihnen weiter als Leseglück mit Paul Auster.