Du 837 | Juni 2013 | Think of Switzerland – fotografiert von Martin Parr
Think of Switzerland
fotografiert von Martin Parr
Im August 1967 erschien Du mit einer Fotostrecke Die Schweiz, gesehen von Henri Cartier-Bresson. Der legendäre Magnum-Fotograf bereiste in mehreren Phasen das Land und fotografierte Schriftsteller, Maler, Industrielle, Menschen. Peter Bichsel kommentierte die Fotos: «Er hat nicht die Schweiz, sondern in der Schweiz fotografiert: keine Berge, wenig Landschaft, wenig See; Menschen, Menschen bei der Arbeit, einige bekannte Gesichter, Fabriken.» Über 45 Jahre später ist die Schweiz nicht mehr dieselbe. Wieder ist ein Fotograf für Du durch die Schweiz gereist, Martin Parr, geboren 1952 in Epsom, Surrey. Der Brite lebt heute in Bristol. Bekannt wurde er mit Serien wie The Last Resort, Bored Couples, Common Sense, Think of England, Small World. Darin schildert er die gesellschaftliche Realität: Phänomene wie Konsum, Tourismus oder nationale Identitäten. Sie beleuchtet er aus einer unterhaltsamen Perspektive, die das Banale, Extreme und manchmal auch Abgründige im Alltäglichen sichtbar macht. Zusammen mit Du-Bildredaktor Lars Willumeit hat er im Herbst 2012 und Frühling 2013 je eine Woche die Schweiz bereist: Zermatt, Luzern, Weggis, Genf, Lausanne, Moudon, Zürich. Sie besuchten die UN und die WHO, UNAIDS, das CERN und den Zürcher Opernball. Aber auch die Fotografie ist nicht mehr dieselbe wie früher. Als Parr der legendären Fotoagentur Magnum beizutreten im Begriff war, musste er starken Widerstand gewärtigen. Der Vietnam-Fotograf und frühere Magnum-Präsident Philip Jones Griffiths wandte sich gegen Parrs Aufnahme mit dem Argument, dass sein Werk allen Grundsätzen von Magnum widerspreche und er die stolze humanistische Tradition der Agentur untergraben werde. Ihm werden Aggressivität und Zynismus nachgesagt.
Der Kunstkritiker David Lee meinte zu Parrs Fotoserie The Last Resort: «Die Leute sind dick, simpel, stillos, erschreckend konformistisch und unfähig, irgendetwas Individuelles auszustrahlen. Sie sind billig und geschmacklos gekleidet und fügen sich in wahrer konservativer Manier in ihr armseliges Schicksal.» Tatsächlich spielt sich Parr nicht als Anwalt unterdrückter sozialer Gruppen auf wie viele seiner Kollegen, sondern arbeitet mit Ironie. Ironie ist aber nicht dasselbe wie Zynismus. «Parrs Stil ist zweifellos direkt, gewissermassen ins Gesicht gesagt», schreibt Autor Gerry Badger, der seit vielen Jahren mit ihm zusammenarbeitet.
Seine neue Arbeit Think of Switzerland zeugt von dieser Ironie. Parr legt seinen Fokus auf die Besonderheiten und Klischees des Landes, auf den Alltag im Wohlstand, auf Swissness und Tourismus. «Ist das das Lächeln der Schweiz? Ernähren wir uns hier von zerlaufenem Käse aus roten Caquelons, Bratwürsten und schmelzendem Eis mit Schweizer Kreuz? Sind alle Lounges in Bürogebäuden so leblos beige möbliert und mit eigenartigen Topfpflanzen dekoriert?», fragt Angeli Sachs, Kuratorin am Museum für Gestaltung in Zürich.
Sachs hat unter dem Titel Martin Parr – Souvenir eine Ausstellung von Think of Switzerland und Arbeiten der letzten 25 Jahre zusammengestellt, die im Museum für Gestaltung Zürich vom 12. Juli bis 5. Januar 2014 gezeigt wird.
«Unter allen klischeebehafteten Ländern in der Welt nimmt die Schweiz einen Spitzenplatz ein. Diese Klischees habe ich als Ausgangspunkt für meine Erkundung des Landes genommen», sagt Parr über seine aktuelle Arbeit.
Parr ist eine spezielle Figur im frühen 21. Jahrhundert. «Er ist kein ausgesprochener Moderner, kein Postmoderner, ein herausragender Vertreter, ja ein Gründer der neuen europäischen Farbfotografie», schreibt Badger. Martin Parr arbeitet als zeitgenössischer Fotojournalist, aber auch als Konzeptkünstler und präsentiert seine Arbeiten in Kunst- und Fotogalerien und an der Art Basel. Mit einem Wort, er nimmt einen zentralen Platz in der Fotografie ein.