Du 835 | April 2013 | Giacometti und das Bergell
Giacometti und das Bergell
Text ILMA RAKUSA
Drei Dinge hätten Giacomettis Leben, Denken und Schaffen massgeblich geprägt, meint Jacques Dupin: die Kindheit, die Frau und der Tod. Doch nicht die Themen an sich sind ungewöhnlich, sondern die Art und Weise, wie Giacometti sie verarbeitet hat.
Die Kindheit – das ist der malende Vater Giovanni, die starke Mutter Annetta, das sind die jüngeren Geschwister Diego, Ottilia und Bruno, das ist Stampa mit dem Atelier des Vaters, wo sich Alberto bald selbst zu schaffen macht, das ist die Bergeller Landschaft mit ihren Bergzacken, Wäldern und Wiesen. Später, aus der Erinnerung, evoziert Giacometti sehr spezifische Aspekte dieser Landschaft. Zum Beispiel einen grossen Felsbrocken in der Nähe vom Dorf, «der sich unten zur Höhle öffnete: Der Eingang war niedrig und lang gezogen, knapp so hoch wie wir damals. An manchen Stellen ging es im Inneren noch tiefer hinein, und ganz am Ende schien sich eine zweite kleine Höhle aufzutun. Mein Vater hatte uns eines Tages diesen Felsen gezeigt. Welch eine ungeheure Entdeckung!» In Gestern, Flugsand (1933) schildert Giacometti, wie sie zu fünft versucht hätten, den Eingang zur Höhle zu verengen, um den Genuss der dunklen Geborgenheit noch zu verstärken. «Ich hatte kaum Platz darin, doch alle meine Wünsche waren erfüllt.» Störend war für das sensible Kind nur, dass sich auf einer unweit gelegenen Anhöhe ein schwarzer, pyramidenförmiger Stein erhob, der keine Höhle barg, sondern wie ein «feindliches, bedrohliches Wesen» wirkte. Der kleine Alberto verschweigt sein Unbehagen und kehrt nie mehr zu diesem Stein zurück. Doch die Sehnsucht nach Höhlen lässt ihn nicht los. Im Winter zieht er heimlich, ausgerüstet mit Sack und Stock, los, um sich auf einer verschneiten Wiese ein Loch zu graben und hineinzuschlüpfen. «Ich stellte mir diesen Winkel sehr warm und dunkel vor; ich glaubte, ich müsse darin unweigerlich ein starkes Glücksgefühl erleben.» Das Experiment misslingt, doch die Fantasien lassen nicht nach.
In der Schulzeit fantasiert sich Alberto nach Sibirien. «Ich sah mich dort, inmitten einer unendlichen, mit grauem Schnee bedeckten Ebene. Nie schien die Sonne, immer war es kalt. Auf der einen Seite, ziemlich weit entfernt, begrenzte ein Tannenwald, ein eintöniger, dunkler Wald, die weite Ebene. Ich schaute auf diese Ebene und diesen Wald durch das kleine Fenster einer Isba [Bauernhütte], in der ich mich aufhielt und in der es sehr warm war.» Dieses sibirische Szenario erinnert verblüffend an Stampa, das im Winter monatelang ohne Sonne auskommen muss und wo Alberto im Schutz des Elternhauses auf die graue Winterlandschaft hinaussah.
Eine Urszene? Die Wirtlichkeit der Hütte (des Hauses) im Kontrast zur weiten, unfassbaren Natur, das Ich am Schnittpunkt zwischen Geborgenheit und Verlorenheit. Insofern haftet dieser Sibirien-Fantasie etwas Existenzielles an. Gleichzeitig verrät sie Giacomettis Vorliebe für graue Farbtöne, die im Bergell insbesondere im Winter vorherrschen. Fels, Schnee, Eis, ein hellgrauer oder hellblauer Himmel, dunkles Holz.