Du 833 | Februar 2013 | Opernhaus Zürich – Die neue Ära
Opernhaus Zürich
Die neue Ära
Die neue Ära
Von Oliver Prange
An der Zürcher Oper ist nach zwanzig Jahren Intendanz von Alexander Pereira eine neue Ära angebrochen. Ein Neuanfang auf allen Ebenen unter der Leitung von Andreas Homoki, der vormals die Komische Oper Berlin leitete. Fast alles ist neu: Intendant, Generalmusikdirektor, Ballettdirektor, Chefdramaturg und viele weitere künstlerische Mitarbeiter.
Eine alte Kulturinstitution erfindet sich neu. Das ist spannend. Aber nicht ohne Risiko. Schliesslich ist das Opernhaus Zürich ein international ausgerichtetes Haus auf Augenhöhe mit der Scala, der Wiener Staatsoper, Paris, London oder New York. Mit einer Eigenwirtschaftlichkeit von vierzig Prozent bei einem Gesamtaufwand von 130 Millionen Franken und sogar einem kleinen Gewinn gehört das Opernhaus Zürich international zu den Spitzenreitern. Ein schönes Erbe der Ära Pereira. Aber auch eine alte Institution wie die Oper muss sich stets neu erfinden, ja gerade deshalb. Seit ihrer Erfindung ist die Oper immer aktuelles Gegenwartstheater gewesen.Die ersten Produktionen der Ära Homoki zeigen, wohin der Weg führt: Geschichten aktualisieren, ohne jemanden zu erschrecken; Balance halten zwischen Erneuerung und Bewahrung, bei der theatralischen Arbeit und im Anspruch an die Sänger. Der Start gelang mit Janaceks Jenufa – ein grosser Titel aus dem 20. Jahrhundert. Das Werk über eine junge Frau mit einem unehelichen Kind, die alles verliert, Ehre, Zukunft, Kind, war bis ins letzte Detail sorgfältig inszeniert.
Mit Christoph Marthaler gab das Enfant terrible des Theaters sein Debüt am Opernhaus. Sale mit dem modernen Bühnenbild eines Kaufhauses erzählt die Geschichte einer Familie, die sich von der Aussenwelt abschottet, während ihr Besitz dahinschmilzt. Ein Pasticcio – eine Oper mit Musik von verschiedenen Werken eines Komponisten, eine freie Auswahl von Arien, Ensembles, Chören und Instrumentalstücken von Händel.
Die erste original erarbeitete Komposition galt einer Kinderoper – der Schatzinsel. Es ist die berühmte Geschichte einer hindernisreichen Suche nach einem vergrabenen Piratenschatz. Den Komponisten Frank Schwemmer kannte Homoki schon durch eine Robin Hood-Produktion in Berlin. Damit soll auch das junge Publikum mit an Bord geholt werden.
Mit einer anderen Seefahrer-Geschichte stellte sich Homoki zum ersten Mal in Zürich als Regisseur vor, mit dem Fliegenden Holländer von Richard Wagner, einem Psychodrama um den einsamen Kapitän, der gegen Gott und die Natur kämpft, aber scheitert, weil er sie verflucht, und deshalb zum Gespenst auf ein Geisterschiff verdammt wird. Nur gibt es in Homokis Aufführung kein Schiff. Es ist für ihn eine Metapher.
Der frische Wind in den Segeln der Zürcher Oper weht aber über einem Fundament, das so alt ist wie die Oper selbst. Schon immer ging es bei einem Gesamtkunstwerk aus Wort, Ton, Geste, Raum und Licht hintergründig um die Tiefen der Seele, um das Ausloten eigener Wünsche, Träume und Albträume, welche die Triebkräfte des menschlichen Handelns erfahrbar machen.
«Homoki ist in Zürich angetreten, um zu beweisen, dass gute Oper ins Herz trifft wie eine Naturgewalt», schreibt die Autorin Daniele Muscionico. Homoki ist überzeugt, dass Oper von heute die Wirkung eines guten Actionfilms haben soll. In seinem neuen Zuhause hat sich Homoki ein Heimkino einbauen lassen, wo der Filmfan mit Hitchcock, Polanski, Kubrick, Tarantino und den Superhelden von X-Men das Auge schult, das Auge für den szenischen Vorgang, Genauigkeit und Sinnlichkeit. Homoki versteht sich als Handwerker, der sein Metier vollkommen beherrschen will. Im Büro ist er selten anzutreffen. Er ist immer dort, wo Team oder Publikum sind, und bringt sich ein: regt an, integriert, motiviert, verführt. Aber warum will Homoki als geborener Regisseur auch Intendant sein? Er sieht die Gesamtleitung eines Hauses als Erweiterung seiner eigenen Regiearbeit.
Wenn Homoki das Auge des Hauses ist, so verkörpert der neue Generalmusikdirektor Fabio Luisi das Gehör. Der Italiener hört – auch ohne Musik. Schon während des Lesens einer Partitur entwickelt er eine vollkommene Klangvorstellung und erlebt eine innere Aufführung. Ein Dirigent muss das können, sonst beherrscht er die Stücke nicht und kann nicht die Proben leiten. Nur mit einer Klangvorstellung im Kopf kann er mit dem abgleichen, was ihm das Orchester anbietet. Luisi hat alle Werke im Kopf, die er selbst dirigiert hat – alle Beethoven-Sinfonien, einige Richard-Strauss-Werke, Sinfonien von Brahms, die geläufigen Verdi-Opern von Aida bis Rigoletto, Rossinis Barbiere di Siviglia, Wagners Rheingold und einiges mehr. «Ein fotografisches Gedächtnis wie Nello Santi hat er nicht, er memoriert über Klang, Proportionen und Formverläufe», schreibt der neue Chefdramaturg Claus Spahn, der Luisi für Du interviewte. Eine anspruchsvolle Oper komplett zu verinnerlichen, geht lange. Für Janaceks Jenufa brauchte er zwei Jahre.
Ein weiteres Organ, das auf Höchstleistung getrimmt sein muss, ist die Muskulatur. Die Balletttänzerin Katja Wünsche tanzt am Opernhaus Zürich die Hauptrolle in Shakespeares Romeo und Julia. Anders als im Hochleistungssport, steht nicht die messbare Leistung im Vordergrund, sondern der künstlerische Ausdruck. Bewegung wird mit Bedeutung, Emotion und Leben gefüllt. Komplexe mehrstündige Bewegungsfolgen lassen sich nicht auswendig lernen wie Sprache oder Musik. Sie kommen in den Körper, indem man Schritt für Schritt übt. «Jede Bewegung bildet einen Baustein, den man zu grösseren Einheiten zusammensetzt», schreibt Marianne Mühlemann. Wenn Wünsche den Tanzstil wechselt, fühlt sich das an, als schalte man auf eine andere Sprache um. Auch dieser Hochleistungssport birgt Verletzungsgefahren. Vor fünf Jahren erlitt sie eine Überbelastung im Sprunggelenk. Weil sie diese zu lange ignorierte, ging plötzlich gar nichts mehr. Sie musste pausieren. Da wurde ihr bewusst, dass der Körper keine Maschine ist.
Das wichtigste menschliche Organ für die Oper ist die Stimme. In Marthalers Sale sang die schwedische Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter. Auch sie kann von einer Sprache auf eine andere umschalten. Sie singt viele Sprachen: Bach und Wagner, Oper und Operette, Jazz und sogar Abba. Sie kann mit ihrer Stimme machen, was sie will. Das Vibrato einsetzen oder weglassen. Von der Klassik auf Pop umschwenken. «Tatsächlich denkt sie beim Singen vor allem an die Technik», schreibt Susanne Kübler. Denn vieles muss zusammenspielen: der Klang und der Text, die Stimmbänder und die Muskeln, die Knochen und die Hohlräume. Manchmal möchte sie mehr Emotionen in eine Passage legen, die Figur ins Zentrum stellen, aber nicht die Sängerin soll weinen, sondern das Publikum. Auch von Otter musste die Erfahrung machen, dass der Körper keine Maschine ist. Vor zwei Jahren gab es eine Phase, da er nicht mehr funktionierte. Sie wusste nicht, warum. Verzweifelt sagte sie Vorstellungen ab. Irgendwann kam sie drauf, dass es die Stütze in den Flanken war, die ihr abhandengekommen war.
Die Dramen finden also in der Oper nicht nur auf, sondern auch hinter der Bühne statt. Das lieben die Zürcher Bürger. Viele sind seit Generationen Aktionäre der heutigen Opernhaus Zürich AG, insgesamt sind es mehr als 2400. Aber niemand besitzt mehr als zehn Prozent. Dass die Zürcher Oper eine AG ist, ist einmalig unter den Opernhäusern. Aktien sind Familienbesitz und werden den Kindern weitervererbt. So schreiben die seit den Anfängen beteiligten Familien Raymonde Syz-Abegg und Henry und Margot Bodmer anlässlich des 175-Jahr-Jubiläums 2009. Die Aktie ist allerdings kein wirklicher Wertgegenstand, vielmehr eine Spende. Das Unternehmen verfügt zwar über beträchtlichen Immobilienbesitz. Doch sollte das Gebäude an der Sechseläutenwiese einmal nicht mehr für Musiktheater verwendet werden, fällt es wieder an die Stadt zurück, die es ihm einst verkaufte. So segelt die Zürcher Oper auch weiterhin mit jedem Mast und Segel in den Winden zwischen Bewahrung und Erneuerung.