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Du 826 | Mai 2012

Theater

Das öffentliche Geheimnis

 
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ISBN:
978-3-905931-21-1
Preis:
CHF 20.- / EUR 15.-
Status:
nicht verfügbar


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Teil I

Cate Blanchett und Andrew Upton im Gespräch mit Christiane Kühl
«Wir wollten etwas anfangen, das grösser ist als wir»
Cate Blanchett leitet gemeinsam mit ihrem Mann Andrew
Upton eines der grossen Theater Sydneys. Ein Interview
mit dem Power-Paar über Theater, Film, Facebook und
Kinderwagenschieben in Berlin.

Christoph Fellmann
Brutalstmögliche Aufklärung der Realität oder das Ende
der Illusionen auf der Bühne

Der junge Schweizer Milo Rau spielt die Horror-Szenarien
der Weltgeschichte als Theater des Reenactments
detailgetreu nach.

Rainer Hofmann
Wo sind die Theater-Sessel?
Theater braucht nicht immer Sitzfleisch. Fünf zeitgenössische
Künstler erfinden das Theater neu. Mitten in der Stadt. Im
virtuellen Raum. Auf der Strasse. Im Hotel.

Daniele Muscionico
Klaus Kinski kauft sich keine Hose, und
die Minichmayr isst ganz allein

Heinz Rühmann, Klaus Kinski, Angela Winkler, Ulrich
Wildgruber, Corinna Harfouch – eine Achterbahnfahrt durch
die Darstellungskunst von den 1950er-Jahren bis
in die Gegenwart.

Simone Meier
Gruppensex! Jetzt! In der Kantine!
Erinnerungen eines Gelegenheits-Groupies

Abonnent sein kann jeder. Aber was wären Marthaler und Katja
Riemann, Schlingensief und Désirée Nick ohne ihre Fans?

Claire Lenkova und Jan-Frederik Bandel
Comic: Autogrammstunde

Till Briegleb
Heroische Zeiten
Für die einen waren sie immer Helden, für die anderen sind
sie abgespielte Egomanen: die Regie-Titanen der 68er-Zeit, die
es ihren Nachfolgern bis heute nicht einfach machen.

Thomas Oberender und Yvonne Büdenhölzer im Gespräch mit Armin Kerber
«Theater kann erst mal wehtun, um einen dann mit
Erfahrung von Zartheit zu konfrontieren»

Die beiden neuen Chefs der Berliner Festspiele und des
Theatertreffens über ihre Liebe zum Theater und über die
Provokation, wenn Künstler auf die Bühne scheissen.

Yvonne Büdenhölzer
Theatertreffen 2012
Die neue Leiterin des Berliner Theatertreffens präsentiert
die zehn ausgewählten Inszenierungen.

Zwanzig Experten / eine Frage / fünfundachtzig Antworten
Zwanzig Festivalchefs und Theaterkritiker quer durch
Europa nennen die zehn bemerkenswertesten Theaterkünstler
Europas des letzten Jahrzehnts.

Teil II

Nadine Olonetzky
World Press Photo Award 2012

Urs Stahels Sichtweisen
Diane Arbus – süchtig nach Begegnungen

Obrist Talk
Die Zukunft ist eine Fiktion

Ausstellungstipps von Juri Steiner

Stefan Zweifels Reflektorium
Passagen einer Sprache der Liebe

Medienpartnerschaft Migros-Kulturprozent
Lust am Verlust? Vom Wert der Freiheit

Die Eroberung des Unnützen von Dieter Meier
Das Drama des Schauspiels

  Du 826 | Mai 2012 | Theater – Das öffentliche Geheimnis

Theater

Das öffentliche Geheimnis

Das Theater der heutigen Zeit
Von Oliver Prange und Armin Kerber

«Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Angesicht.» Jeder kennt diesen Kinderreim. Und jeder weiss, was damit gemeint ist: Das Gesicht des Menschen, eines der komplexesten Schöpfungen der Weltgeschichte, wird auf seine einfachste Formel gebracht. Ähnlich ergeht es oft dem Theater: Bühne, Vorhang, Schauspieler, Zuschauer – das wars. Dabei ist Theater eine der aufwendigen, in seiner Entstehung unberechenbaren Kunstformen der Menschheitsgeschichte: ein öffentliches Geheimnis. Und eine wichtige Verschiebung im Theater der heutigen Zeit liegt sicher darin, dass es sich nicht Punkt-Punkt-Komma-Strich-mässig auf seinen eigenen Kanon verlässt, sondern immer wieder neu nachfragt: Wo ist die Bühne? Wer sind die Schauspieler? Was wollen wir eigentlich erzählen? Das neue Theater-Du zeigt: Alles kann zur Bühne werden, das Gesicht von Cate Blanchett auf unserem Du-Cover, ein Callcenter in Kalkutta, die Fassade eines Hochhauses.
Nach knapp zwanzig Jahren Sendepause gibt es jetzt wieder ein Theater-Du. In dieser Zeit ist viel passiert: Vor zwanzig Jahren hat Du einerseits die junge Regie-Generation und anderseits die sogenannte Freie Szene als neue Innovationskraft gegen das etablierte Stadttheater ins Zentrum gerückt und die fantasievollen Impulse der Gegenkultur gefeiert. Wenn Sie unser neues Theater-Du durchblättern, sehen Sie rasch, was sich verändert hat. Das Theater der heutigen Zeit lässt sich nicht mehr in Formen von Gegensätzen oder Widersprüchen fassen, sondern öffnet – gerade und besonders in Europa – ein weites Feld und eine vielfältig gestaltete Landschaft wie kaum eine andere zeitgenössische Kunstgattung.
Uns interessiert das Theater der heutigen Zeit nicht aus der Perspektive seiner Kritiker, seiner Einsparer oder seiner Ignoranten. Wir haben Menschen besucht, die künstlerisch und real so weit auseinanderliegen wie Südpol und Nordpol und sich dennoch in ihrem Glauben und ihrer Liebe zum Theater treffen. Zum Beispiel die Oscar- Gewinnerin Cate Blanchett in Sydney und Milo Rau, den jungen Schweizer aus Schaffhausen, der jetzt in Köln lebt: Beide trennen tatsächlich 20 000 Kilometer Luftlinie. Cate Blanchett leitet abseits des fremdgesteuerten Hollywood-Systems seit fünf Jahren gemeinsam mit ihrem Mann die Sydney Theatre Company in Australien, wo sie erfolgreich Theater für die ganze Stadt macht und die grossen Frauenfiguren von Tennessee Williams und Anton Tschechow neu interpretiert. Im Du-Gespräch stellt sie sich selbst die Frage: «Was magst du lieber als Schauspielerin: Theater oder Film?»
Trifft man Milo Rau, so dreht sich die Frage, worum es ihm im Theater geht, um 180 Grad: Realität als Theater – mit seiner Theaterform des «Reenactments» hebelt der junge Schweizer den bekannten Chor der oft zitierten Fragen nach Werktreue und Textgläubigkeit mit einem Schlag aus. Milo Rau holt die Weltgeschichte als reales Abbild auf die Bühne – ein Radiostudio aus Ruanda, von dem aus der Völkermord an den Tutsis mit Nirvana-Songs angeheizt wurde. Oder die Hinrichtung des Diktatoren-Paares Ceausescu. Alles wird detailgetreu rekonstruiert und nachgespielt, und kein Zuschauer, der dieses Schauspiel der Realität gesehen hat, stellt hinterher mehr die Frage, ob Theater nicht altmodisch sei gegenüber Kino, Video oder Internet.
Früher hat sich fröhlicher Theater-Optimismus in Sätzen geäussert wie: «Theater muss wie Fussball sein.» Die Zeiten haben sich verändert. Fussball ist inzwischen weltweit ein gehypter Mega-Event und Unterhaltungs-Fluchtpunkt aus unserer globalisierten Krisen-Befindlichkeit geworden. Beispiele wie Cate Blanchett und Milo Rau zeigen: Theater steht heute mehr denn je quer zu allen Vereinnahmungen der Kommerzwelt. Theater stellt sich der neuen, harten Realität – mit allen Mitteln der Kunst. Wie der grosse italienische Regisseur Romeo Castellucci, einer der fantastischen Bildwelt-Erfinder der Gegenwart, der mit seiner an den grossen Malereien der Renaissance geschulten Kunst zum Beispiel den alltäglichen Horror einer bürgerlichen Inzest-Familie erzählt. Castellucci wurde für unser Theater-Du als einer der zehn bemerkenswertesten Theaterkünstler der Gegenwart ausgewählt – wir haben zwanzig Experten in ganz Europa gefragt und präsentieren Ihnen diese zehn Jahrzehnt-Künstler mit jeweils einer ausgewählten Inszenierung.
Natürlich stellen wir uns der Frage, die immer wieder im zeitgenössischen Theater aufflammt: Gehört Provokation und Tabubruch inzwischen so selbstverständlich zum Theater wie die Langeweile zu Parlamentsdebatten? Bereits vor acht Jahren hat Wolfgang Schäuble gesagt: «Ein Tabubruch auf der Bühne ist dann durchaus in Kauf zu nehmen, wenn das Theater damit zur Erklärung der Welt beitragen kann.» Was heisst das konkret? Wir haben Thomas Oberender und Yvonne Büdenhölzer, die beiden neuen Chefs der Berliner Festspiele und des Berliner Theatertreffens – mit denen uns für diese Ausgabe eine besondere Medienpartnerschaft verbindet –, gefragt, warum sie eine Produktion für das Theatertreffen 2012 eingeladen haben, auf der Schauspieler ganz real auf die Bühne scheissen.
Die schönste Hommage gilt den Schauspielern: Daniele Muscionico führt uns durch fünf Jahrzehnte Schauspiel-Kunst von Heinz Rühmann bis Herbert Fritsch, und Simone Meier gesteht, wo sie das erste Mal in ihrem Leben am liebsten Gruppensex gehabt hätte: in der Theaterkantine. Wir hoffen: Das Warten auf das neue Theater-Du hat sich für Sie gelohnt. Willkommen, liebe Theaterliebhaber und liebe Theaterverächter – wir laden Sie gemeinsam ein zum Lesen und Schauen unseres neuen Du. Und hinterher entscheiden Sie selbst, wann Sie wieder ins Theater gehen. Oder wo Sie plötzlich Theater sehen.