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Du 822 | Dezember 2011

Jüdische Kultur

Vom Glück und Unglück in Unterzahl zu spielen

 
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ISBN:
978-3-905931-14-3
Preis:
CHF 20.- / EUR 15.-
Status:
nicht verfügbar


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Teil I

Buchkultur – Emile Schrijver
«Das Volk des Buches …»

Kulturgeschichte – Andreas B. Kilcher
Was ist jüdische Kultur?
Die jüdische Kultur bereichert eine vielhundertjährige Diasporageschichte, die die Juden in Austausch mit andern Kulturen gebracht hat. Das macht diese Kultur transnational, vielsprachig, kosmopolitisch - und diasporisch.

Gesellschaft – Pierre Heumann
Nachbarn – so wie wir
Angesichts der Protestbewegung im arabischen Raum fragen sich Kulturschaffende: Was ist bei den Nachbarn los? Einige hoffen auf bessere Zeiten. Andere fürchten, dass sich der israelisch-arabische Konflikt zuspitzt.

Siedlungen – Matthieu Gafsou (Bilder), Daniele Muscionico (Text)
Karte und Gebiet

Nahost-Konflikt - Joris Luyendijk
Der Medienkrieg
Die weltweite Obsession mit dem Nahost-Konflikt wird gesteuert durch Medien, die dem Konflikt eine Bühne bieten, auf dem er teilweise auch ausgetragen wird. Dabei geht vergessen, dass es nicht den palästinensisch-israelischen Konflikt gibt, sondern fünf oder sechs oder noch mehr.

Identität (I) – Daniel Kahn im Gespräch mit Thomas Gross
«Jüdisch sein allein ist nicht abendfüllend»
Eine neue Generation jüdischer Musiker findet ihre Identität im «globalen Schtetl» mit einem vitalen jüdischen Bei¬ trag zu einer Welt voll inspirierender Mischungen. Songwriter Daniel Kahn spricht über «Verfremdungsklezmer» und die Kunst, unterhaltsam zu sein, ohne zu belehren.

Identität (II) – Katharina Hacker und Sonia Simmenauer
Wenn Nähe und Fremdheit sich finden
Zwei Freundinnen schreiben sich E-Mails von unterwegs. Die eine ist Jüdin, die nach Deutschland gezogen ist, die andere nicht jüdische Deutsche, die für sieben Jahre nach Israel ging. Ihre Frage: Was bedeutet es heute, jüdisch zu sein?

Verschwörungstheorien - Jon Lieberberg
Kontrollieren wir Hollywood?
Ein nichts ahnender säkularer Jude aus Deutschland taucht ein in Hollywoods Unterhaltungsindustrie und wird plötzlich Teil einer grossen Verschwörung. Ein Blick hinter die Kulissen der globalen Netzwerk-Profis.

Literatur - Howard Jacobson im Gespräch mit Sacha Verna
«Für uns haben Worte magische Eigenschaften»
Ein Gespräch mit dem Man-Booker-Preisträger Howard Jacobson über seinen Roman Die Finkler-Frage, Tischtennis und über die Gültigkeit von jüdischen Stereotypen.

Teil II

Memorial – Dieter Bachmann
Filigranes Monument heftiger Erinnerung
Peter Zumthors Memorial für die Hexenverbrennungen im nordnorwegischen Varta ist ein spiritueller Raum, der einem das Fürchten näherbringt. Dem Schweizer Architekten geingt eine Inszenierung, die lange Verdrängtes aufweckt und damit zur Ruhe bringt. Kühn und einzigartig.

Musik - Matthias Winkelmann im Gespräch mit Tilman Urbach
«Man kann nicht von neun bis fünf Jazz spielen und dann ein normaler Mensch sein»
Es ist eines der interessantesten Jazz-Labels der Welt: Enja vertritt nicht nur Giganten wie Chet Baker und Abdullah Ibrahim, sondern sorgt immer wieder für spannende Grenz¬ überschreitungen - seit genau vierzig Jahren.

Literatur - Stefan Zweifel
Schreib-Exorzismus als Selbstgeburt
Für die Neuübersetzung von Skorpionfisch stiess Stefan Zweifel in Nicolas Bouviers Archiv auf unbekannte Dokumente, darunter das Zeugnis eines «Schreib-Exorzismus»: Eine Nacht lang notierte Bouvier wie ein Rasender alles über Ceylon und die schwarze Magie, der er zum Opfer fiel, und wurde dabei zum Weltautor.

Vorabdruck - Nicolas Bouvier
Skorpionfisch

Teil III

Urs Stahels Sichtweisen
Peter Galassis Abgang am MoMA

Raffinierter leben mit Ludwig Hasler

Ausstellungstipps von Juri Steiner

Kunstbuch
Daniele Muscionico über "The Art Museum"

Stefan Zweifels Literaturtipps

Filmtipp
Martin Walder über Werner Herzogs Höhlenkino

Theatertipp
Christine Dössel über Martin Kusej

Poptipp
Albert Kuhn über Feist

Klassik- und Jazztipps
von Christian Berlins und Tilman Urbach

Migros-Kulturprozent
Zu schön, um wahr zu sein?

  Du 822 | Dezember 2011 | Jüdische Kultur – Vom Glück und Unglück in Unterzahl zu spielen

Jüdische Kultur

Vom Glück und Unglück in Unterzahl zu spielen

Leben in der globalen Heimat

Von Stefan Kaiser

Geht das? Kann man sich für hebräische Handschriften begeistern, ohne sich mit Israel zu befassen? Und lassen sich "Überthemen" wie Holocaust und Nahostkonflikt, Siedlungspolitik, Völkerrecht und Sozialproteste überhaupt in eine einzige Ausgabe packen – zusammen mit historischen Hochzeitsverträgen und Esterrollen? Und all die Fettnäpfchen? Und Irans Atomprogramm? … Der typische Eiertanz, den Nichtjuden angesichts jüdischer Themen aufführen, erfasste auch die Du-Redaktion beim ersten Blick auf die Sammlung von René Braginsky – eine der bedeutendsten Privatsammlungen jüdischer Handschriften und Druckwerke aus der Zeit zwischen 1288 und dem 20. Jahrhundert. Doch wir haben uns schnell zugunsten dieser Werke entschieden, die nach ihrer Reise durch die Welt, nach viel beachteten Ausstellungen in Amsterdam, New York und Jerusalem, jetzt im Landesmuseum Zürich wieder in ihre Heimatstadt zurückkommen.
Für die Öffentlichkeit ist dies ein seltener Glücksfall. Private Büchersammlungen sind dem Publikum meistens nur schwer zugänglich, und René Braginskys Sammelleidenschaft dürfte viele Besucher dazu veranlassen, sich näher mit der jüdischen Geschichte und Kultur zu befassen. Damit weist die Zürcher Ausstellung jüdischer Schriftkultur gleichzeitig einen Weg aus den Stereotypen und Zwangsritualen, die das Verhältnis zum Judentum so häufig prägen: Denn die Frage nach dem Stellenwert der jüdischen Kultur in einer globalisierten Welt kann durchaus exemplarisch genommen werden für aktuelle Entwicklungsprozesse der Kultur.
Das ist auch unsere Perspektive. Im Zentrum dieser Ausgabe steht eine kulturelle Identität, deren Wesensmerkmal es ist, durch den ständigen Austausch mit andern Kulturen geprägt zu sein. Das macht eine Definition jüdischer Kultur – sei sie ethnisch, national oder soziologisch – praktisch unmöglich. Und das macht die Frage, was es heute bedeutet, Jude zu sein, für kulturschaffende Juden zu einer anregenden, ständigen Auseinandersetzung.
Bereits unsere erste Begegnung mit Musikern und Schriftstellern machte deutlich, dass es jüdische Kultur nur im Plural gibt. Die Zeit der Verklärung einer (schon damals fiktiven) osteuropäischen Schtetl-Idylle ist ebenso abgelaufen wie das Selbstbild, sozusagen eine denkmalgeschützte Minderheit zu sein. Dagegen nähert sich eine neue, selbstbewusste Generation jüdischer Kulturschaffender ihrem Jüdischsein mit Intelligenz und Witz. Statt sich auf die Vergangenheit zu fixieren, geht es ihr um den Aufbruch in die Zukunft. Statt orthodoxer Vorschriften entnehmen diese Menschen ihrer Religion, was für sie selbst Sinn ergibt. Statt ideologischer Strenge zeigen sie einen spielerischen Umgang mit der Tradition und traditionell jüdischen Themen, die sie mit ihrer eigenen Fantasie interpretieren. Gemeinsam ist all diesen Versuchen vielleicht der Wunsch, so etwas wie einen originär jüdischen Beitrag zu einer Welt der kulturellen Mischungen zu leisten.
Die Freiheit, als jüdischer Musiker, als jüdischer Schriftsteller nicht immer dieses grosse "schwarze Loch der Geschichte" reflektieren zu müssen, das jedes autonome Handeln verschluckt – diese Freiheit ist auch für Nichtjuden ansteckend. Der in Berlin lebende amerikanische Songwriter Daniel Kahn hat dafür den schönen Ausdruck "Gegenwartsbewältigung" geprägt. Und wenn der preisgekrönte Autor Howard Jacobson meint, das jüdische Volk hätte vor dem Hintergrund von Diaspora und Assimilation die besondere Verpflichtung, ein intellektuelles Leben zu führen, heisst das bei ihm immer auch: ein Leben mit jüdischem Witz. "Juden sind lustig", sagt er im Du-Gespräch, "weil sie wissen, dass das Leben es nicht ist." Die Verbindung von Tragik und Humor in der jüdischen Kultur – hier blitzt sie auf. Diese Freiheit leitet ebenso den Schweizer Fotografen Matthieu Gafsou dazu an, sich mit eigenem Blick den israelischen Siedlungen zu nähern. So sind nie gesehene Bilder entstanden, die nicht die Seite einer der Konfliktparteien ergreifen wollen, sondern dem Betrachter einfach zeigen, was ist – in einem Licht, das zum Selberdenken anregt.
Das Verstreutsein in alle Welt hat die Juden nicht gehindert, immer etwas mitzunehmen, das sie mit Respekt als Teil ihrer Identität wahrnehmen und das sie mit dem kulturellen Umfeld des jeweiligen Gastlands mischen und damit weiterentwickeln. So entstand über viele Jahrhunderte hinweg ein kultureller Reichtum, der heute seinen Kern gerade nicht im Reflex des Einigelns angesichts äusserer Unsicherheiten findet, sondern in der Offenheit, die sich auf ein gesundes Selbstvertrauen stützt. Mit Blick auf Israel ist zu wünschen, dass diese kreative Kraft zu Lösungen führt, die das Land vor extremistischen Ansichten schützt – das wäre heute wohl die Lehre dieser global bedeutenden Diaspora-Kultur.