Du 0 | Juni 2016 | Das Sonnenfest – Oliver Prange
Das Sonnenfest
Oliver Prange
Mille Gusti – tausend Geschmäcker
Ascona liegt zu Füssen von hohen Bergen. Der Lago Maggiore schlängelt sich südwärts bis in die Lombardei. Der See ist ein tiefblauer Zauberspiegel in der milden Sonne des Frühlings. Im Kräuseln der Wellen wirken die beiden Brissago-Inseln wie stoisch vor Anker liegende Schiffe. In der klaren Luft zeichnet sich der Bergzug des Monte della Trinità scharf vor dem Horizont ab. Der Grat ist bis anfangs Sommer mit Schnee überzogen, der in der Sonne gleisst, aber von seinen Granitflanken rauschen schäumende Wasser der Schneeschmelze zu Tal.
Von schroffen Höhenzügen fallen steile Stürze, in denen gewaltige Steintrümmer liegen. Etwas unterhalb beginnen Birken, Buchen, Lärchen und Kastanien. Sie umsäumen weiche Weidenfelder. In den steilen Halden sonnen sich einsame Scheunen, umgeben von Farn. Oberhalb des Sees reihen sich Rebgirlanden auf gestuften Terrassen, dazwischen liegen holprige Pfade. Die Magnolien, Pfirsich-, Apfel- und Feigenbäume tragen schmucke Blütenpracht. Schon leuchten Blumen in allen Farben mit berauschendem Duft: Hyazinthen, Forsythien, Frauenschuh, Schlüsselblumen, Azaleen, Wildprimeln, Türkenbund, Knabenkraut und Narzissen. Bald erwachen auch Flieder, Glyzinien, Kamelien und Ginster. Bereits hört man das Zirpen von Grillen und Heimchen, das Knarren der Frösche, das Huschen von Eidechsen, das lautlose Schlängeln von Kreuzottern und Ringelnattern. Palmen, Drachenbäume und Agaven säumen die holprigen Pfade in den Hängen.
Die Magnolien und Pfirsichblüten liegen noch im Winterschlaf, die Buschwälder und Macchien, dazu der herbe Geruch und das strahlende Gelb des Ginsters, das Zirpen von Grillen und Heimchen, das Knarren der Frösche, das Huschen von Eidechsen, das lautlose Schlängeln einer Ringelnatter. Die Hügel um Ascona leuchten. Die "Inverna" bläst eine alpenhaft klare Luft. Der Himmel über Ascona ist hoch und rein.
Auf der Piazza ging das Leben seinen gewohnten Gang an diesem Frühlingstag im Jahr 1917. Alfredo bespannte gedankenversunken Holzstühle mit Strohflechten. Er sass zwischen aufgehängten Fischer- netzen unter den Arkaden des Palazzo Papio, dem schönsten Haus des Dorfs, das Bartolomeo Papio vierhundert Jahre zuvor hatte erstellen lassen, als er reich und vornehm aus Rom zurückgekehrt war. Die Wäscherinnen in ihren Faltenröcken standen gebückt am Ufer und rieben Kleider am Waschbrett sauber, während sie den neusten Klatsch austauschten. Renato, der Schuhmacher, sass hinter dem geöffneten Fenster in seiner dunklen Werkstatt inmitten seiner Schmierfettdosen und klopfte Sohlen, als ginge ihn nichts anderes an. An einer Hauswand an der Via Borgo kauerte Luigi Carrara, der alte Schirmflicker. Er wartete dösend auf Arbeit – ein hoffnungsloses Ansinnen an diesem sonnigen Tag. Von Locarno ratterte Achille Poncini, der ‹Moleta›, der Scherenschleifer, fröhlich pfeifend mit seinem Wagen auf dem holprigen Pflasterstein heran. Auf der Ladefläche war ein grosses und ein kleines Rad installiert, dazwischen ein Schleifband gespannt, an dem er die Klingen schärfe.