Trouvaillen aus dem Du-Archiv
Martin Walser antwortet auf die Frage, welches Buch er im Falle eines allgemeinen Bücherverbots auswendig lernen würde:
"Ohne Zögern: 'Jakob von Gunten' von Robert Walser. In diesem Roman wird unsere Existenz als etwas erzählt, was man nicht lernen kann. Alles, was mit uns zu tun hat, wird schief gehen, scheitern, elend enden. Das zu ertragen, will dieser ehrgeizige Entwicklungsroman uns erzählen. Dass wir ja sagen zu unserem unabwendbaren Untergang. Aber nicht heroisch ja oder verbissen ja sollen wir sagen, sondern leichtsinnig und leichtfertig. Ein bisschen bejubeln sollen wir unseren todsicheren Untergang. Genauer gesagt: das Leben wird gar nicht stattfinden. Ja, zuerst haben wir uns natürlich vorbereitet, haben alles getan, um bestens ausgestattet zu sein für dieses hoffentlich bald einmal beginnende Leben. Dann, von einem Augenblick zum anderen, merken wir: das war’s schon. Das heisst: von jetzt an werden wir zurückschauen. Zuerst voraus-, dann zurückschauen: auf das Leben. Mehr ist es nicht, war es nie. Alle wunderbaren Abschnitte phantasieren höchst gegenständlich in diesem Existenzabenteuer herum. Ich kenne kein Prosabuch, das ich unter ALLEN Umständen brauche. Auch wenn ich’s dazu auswendig lernen müsste. Da ich es sicher schon zehn-, zwölfmal gelesen habe, habe ich das Gefühl, ich kennte es schon auswendig. Ich kenne es auf die Art auswendig, wie man nur Gebetbücher auswendig kennt. Und ein Gebetbuch ist es ja. Eins, in dem wir unseren Lebenssinn noch und noch nachbeten können".
(Aus dem Du 661, Juni 1996).